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Die Karriere von Dr. Micki

oder die Krise kommt ganz leise

von Gerhard P. Hoppe

Es war einer dieser Tage, die ohne Bedeutung zu sein scheinen, zumindest noch am frühen Morgen. Dr. Micki war in gewohnter Routine im Büro angekommen und checkte seinen Tagesplan. Alles war wie immer. Meetings, Telefontermine, zwei Besucher und jede Menge E-Mails zu lesen. Aber dann kam eben dieser Anruf. Ob er an einem soeben freigewordenen Vorstandsposten interessiert sein würde. Dr. Micki war nicht sonderlich überrascht. Jetzt mit Anfang vierzig hatte er doch früher oder später mit einem solchen Angebot gerechnet. Aber tief in seinem Innersten brach in diesem Moment etwas zusammen. Nein, er folgte spontan ohne weiter zu überlegen seinem Bauchgefühl, bedankte sich und brach das Gespräch ab.

Er verließ sein Büro, um ein paar Schritte im Park gegenüber zu laufen. Eine ihm fremde Stimmung, die sich seit Wochen schleichend angekündigt hatte, schien ihn jetzt geradewegs zu überwältigen. Er musste nachdenken und herausfinden, was in ihm vorging. Und seine Gedanken gingen weit zurück. Sehr weit.

Und genau hier beginnt unsere Geschichte von Dr. Micki. Genauer gesagt beginnt sie, lange bevor Micki ein Doktor war. Micki selbst kam zu dieser Erkenntnis, dass alles seinen Anfang nahm, als er noch im Kindergarten spielte. Es waren blasse Erinnerungen, sehr blasse. Aber dieser eine Satz von Schwester Ursel hatte sich in seinem damals kindlichen Gedächtnis eingebrannt. „Micki, wenn du erst mal in der Schule bist.“ Es war das erste Mal, dass er etwas von dem spürte, was noch vor ihm lag. Etwas Größeres, Besseres, etwas, was es zu erreichen galt. Er erinnerte sich daran, wie er in kindlicher Naivität diesem Tag entgegenfieberte. Und dann kam er. Der Tag der Einschulung. Und die unerwartete Erkenntnis, dass es mit diesem einen Mal nicht getan war, nein, er sollte am nächsten Tag wieder hin. Und es folgte eine schöne Schulzeit, er lernte gerne und gut. Seine kleine Welt war in Ordnung.
Seine Mutter war es, die sie schließlich störte. „Micki, du bist jetzt in der vierten Klasse. Am Ende des Schuljahres wird es sich entscheiden, ob du auf das Gymnasium gehen darfst.“ Es folgte eine für ihn aufregende Erklärung, warum das für ihn wichtig sein würde. Es wäre die bessere Schule, die ihn aufs Leben vorbereiten würde und nicht jeder könnte dorthin. Fortan hatte Micki ein neues Ziel, eine Vision, für die es sich lohnte, diszipliniert alle Hausaufgaben zu machen. Und so war er stolz, als er ein knappes Jahr später sein Klassenzimmer im Gymnasium betrat. Er hatte es geschafft.
Kaum dort angelangt, hieß es aber aus dem Kreis der Familie: „Wenn du erst mal das Abitur hast, dann stehen dir alle Wege offen, dann kannst du jeden Beruf ergreifen, den du willst.“ Das hörte sich gut und verlockend an, auch wenn es Mickis Horizont noch etwas überstieg, aber er hörte diesen Satz noch ein paar Mal. Und er prägte sich tief in seinen Gedanken ein. Das Abitur. Es gehört zum Leben. Ein wichtiges Ziel. Und wieder hatte er etwas, worauf er zuarbeiten würde. Aber zunächst kamen Jahre, wie sie nur die Jugend bringen kann. Er entdeckte seine Leidenschaft für die Musik, lernte Gitarre, spielte mit Hingabe in einer Band und genoss den Applaus auf der Bühne. Und in den Ferien in der Schweiz ergriff ihn die Faszination der Berge. Der Bergführer, den sein Vater gebucht hatte, faszinierte ihn. Ein Naturbursche, der mit Gletschern und verschlungenen Pfaden aufgewachsen war und einen freien, ungezwungenen Eindruck hinterließ. Was für ein wunderbarer Beruf, stets an der frischen Luft und offensichtlich immer gut drauf. Noch lange musste Micki an ihn denken.

Der Tag kam und er nahm bei der Schulfeier sein Abiturzeugnis entgegen. Allerdings war die Freude nicht ganz ungetrübt. Er musste sich schließlich noch für ein Studienfach entscheiden. „Wenn du erst mal auf der Uni bist...“. Diesmal war es der Vater, der auf ihn Druck ausübte, schließlich hatten in der Familie alle studiert. Und natürlich fand Micki seinen Platz.
Die Semester flossen dahin, ja es machte ihm Spaß und er war erfolgreich. So erfolgreich, dass einer der Professoren ihm einen Job an der Uni als wissenschaftlicher Mitarbeiter anbot. „Jemand mit Ihren Begabungen muss unbedingt promovieren.“ Da war es wieder. Das neue Ziel, die neue Vision, die sich verlockend anhörte. Sicherlich eine Hürde, aber die Belohnung schien groß. Nur 1,1 % der Deutschen tragen einen Doktortitel. Das Gefühl, dann zur Elite zu gehören, war stark in ihm.

Es war nur wenige Tage nach seinem Rigorosum, das ihm übrigens ein „Summa cum laude“ einbrachte, als sein Doktorvater in ansprach. Es gäbe da eine hochinteressante Stelle in einem ihm bekannten Unternehmen, das einen promovierten Berufseinsteiger suchte. „Eine Top Firma, Branchenführer, Micki, wenn Sie dort erst mal den Einstieg gefunden haben, ist Ihre Karriere so gut wie gesichert.“ Der Schalter, der bei Dr. Micki in diesem Moment umgelegt wurde, kam ihm irgendwie bekannt vor.

Die Probezeit im anvisierten Job war gerade abgelaufen und sein Chef führte ein Fördergespräch mit ihm. „Dr. Micki, wir sind sehr zufrieden mit Ihnen, weiter so, wenn Sie dann erst mal die Leitung der Abteilung übernommen haben...“. Und hier wachte Micki aus seinen Gedanken und Erinnerungen wieder auf. Gab es da einen roten Faden in seinem Lebenslauf? Im Rückblick wurde ihm schlagartig bewusst, wie sehr er immer und immer wieder von den Wertvorstellungen seines Umfelds beeinflusst worden war. Wie sehr waren denn die Ziele, denen er gefolgt war, seine eigenen? Er war erfolgreich, hatte ein weit überdurchschnittliches Einkommen, einen hohen sozialen Status und ein Dienstfahrzeug in seiner Wunschfarbe. Aber das heutige telefonische Angebot offenbarte ihm, dass er an einem Wendepunkt angelangt war. Micki hatte gerade die Weichenstellungen in seinem Leben neu erkannt. Und immer schien da jemand wie mit einer Fernbedienung in der Hand zu sein, die Micki signalisierte, was er zu tun habe. Und er tat es, weil man es eben so tut, wenn man erfolgreich sein will. So hatte man es ihm gesagt, so hatte er es immer wieder gehört oder gelesen. Und jedes Mal, wenn er ein Ziel frisch erreicht hatte und er endlich angekommen zu sein glaubte, tauchte augenblicklich ein weiteres auf - und auf ging es zum nächsten Level. Der berufliche Aufstieg schien irgendwie in feste Formen gegossen zu sein.

Micki setzte sich auf eine schattige Bank im Park. Noch einmal gingen seine Gedanken zurück und er erinnerte sich an diese emotional vollgeladene Zeit, in der er in seiner Band mitgespielt hatte. Er fühlte noch einmal die Leidenschaft in sich aufsteigen, die er seitdem nie wieder gespürt hatte. Ja, damals wäre er gerne voll eingestiegen, aber das existenzielle Risiko war hoch. Die vorgezeichnete Linie zum Abi und zum Studium war dagegen kalkulierbar. Aber er wäre auch gerne Bergführer geworden. Zumindest für eine gewisse Zeit.

Und jetzt? Micki fühlte sich in der Falle. Erfolgreich wie er war, bemerkte er, dass er kognitiv alles beherrschte, aber wirklich zufrieden war er seit Jahren schon nicht mehr. Sein innerer Motor war ins Stottern gekommen, er trieb ihn nicht mehr wirklich an. Er wusste heute nur eines. Er musste seine Vorstellung von Erfolg und Karriere neu formulieren. Und zwar allein. Nur für sich. Ohne Fremdeinwirkung und ohne Klischees.

Und hier endet unsere Geschichte von Dr. Micki, die natürlich frei erfunden ist. Eventuelle Ähnlichkeiten mit ganz vielen anderen, lebenden Personen und Lebensläufen wären rein zufällig.

© 2023 Gerhard P. Hoppe
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